Lernstörung Dyskalkulie
Die Fachkräfte des Zentrums arbeiten mit Kindern und Jugendlichen, die dem Schulunterricht, dem schulischen Förderunterricht und gegebenenfalls auch den Nachhilfestunden nicht die
Lerninformation entnehmen, die sie für den Erwerb mathematischer Kompetenz benötigen. Die sich als gravierend erweisenden Lerndefizite betreffen vor allem den Grundlagenbereich der
Mathematik, das basale Verständnis von Mengen und Größen, von Zahlen und Rechenoperationen. Die betroffenen Schülerinnen und Schüler leiden an einer umschriebenen
Lernstörung, der Was ist Dyskalkulie?2.
Da die Mathematik wesentliches Element des – in der Schule zu erwerbenden – gesellschaftlichen Wissens ist, scheitern diese Kinder und Jugendlichen also in einem elementaren
Lernprozess, dessen Erfolg, respektive Misserfolg für die Lebens- und Berufschancen mitentscheidend ist.
Eine unmittelbare Folge der Dyskalkulie ist häufig eine, möglicherweise erhebliche, Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwicklung und psychischen Gesundheit der von der
Lernstörung Betroffenen. Mit der Zeit zeigen sich seelische Reaktionen wie z.B. Angst, Verlust des Selbstwertgefühls, Lernblockaden, verschiedene Verhaltensstörungen,
Leistungsverweigerung, Schulphobie oder auch psychosomatischen Beschwerden.
Auf das Selbstbild und Selbstkonzept des Kindes wirkt eine psychoreaktive Spirale, die in der Fachliteratur als „Teufelskreis Lernstörung“ bezeichnet wird. Das Kind verhält
sich misserfolgsorientiert und entwickelt Angstzustände. Die Motivation fällt deutlich ab, das Kind zeigt zunehmend Anstrengungs-Vermeidungs-Verhalten und das negative Selbstbild
seiner Person verdichtet sich. Dies verhindert wiederum eskalierend die Aneignung der notwendigen Rechenfertigkeiten.
Darüber hinaus entwickeln misserfolgsorientierte Schülerinnen und Schüler kompensatorische Verhaltensbilder: wie Bagatellisierung, externe Attributierung, Großspurigkeit,
Kaspern, Aggressivität, Depressivität und potentiell asoziale Verhaltensweisen. Die Gründe für solche Reaktionen werden deutlich, wenn man sich die Situation des Kindes
vergegenwärtigt. Sie ist gekennzeichnet durch oftmals jahrelanges Scheitern und subjektive Ausweglosigkeit – das Kind kann ihr nicht entweichen; zudem reagieren Elternhaus und Schule
nicht selten mit Unverständnis und falscher Kritik auf seine Probleme. Erwachsene sind einer solchen extremen Situation nur in sehr seltenen Fällen ausgesetzt.
Mit dem Scheitern im mathematischen Lernprozess und den aufgeführten negativen psychischen und sozialen Folgen sind die Bildungs-, Berufs- und Lebenschancen der Kinder und Jugendlichen
erheblich beeinträchtigt und der Integrationsprozess in die Gesellschaft ist gefährdet. Aus dieser Situation der Betroffenen ergibt sich in den meisten Fällen die Notwendigkeit einer
systematischen Lerntherapie, die die Dyskalkulie und ihre nachteiligen Folgen behebt.
Diagnose der Lernschwäche
Es ist notwendig und möglich, das verletzte Selbstwertgefühl des Bteroffenen und die sich daraus ergebenden Störungen an dem Gegenstandsbereich - dem Erlernen der Mathematik - wieder
aufzubauen, aus dem die Verletzung herrührt. Die Wiederherstellung des Selbstwertgefühls und der Erwerb mathematischer Kompetenz stehen also nicht nebeneinander, vielmehr werden in der
lerntherapeutischen Arbeit mathematischer Lernprozess und dessen psychologische Absicherung miteinander verknüpft. Eine solchermaßen integrative Therapie berücksichtigt, dass bei
der Entwicklung des Zahlbegriffs und der Erarbeitung einer mathematischen Handlungskompetenz beim operativen Umgang mit Zahlen das Kind Lernerfolge erlebt, die ihm wieder ein positives
Verhältnis zu seiner Leistungsfähigkeit und damit den Wiederaufbau eines positiven Selbstkonzeptes ermöglichen.
Die Grundlage dieser integrativen und ganzheitlichen Lerntherapie bildet eine Diagnostik, die differenziert darüber Aufschluss gibt, welche mathematischen Fehlleistungen vorliegen und
auf welcher Stufe der mathematischen Systematik sie einsetzen. Mit dem institutseigenen Diagnostikum werden nicht einfach die Leistungsergebnisse des Rechnens festgehalten, sondern es wird in einem
erprobten qualitativen diagnostischen Verfahren in erster Linie ermittelt, welche Lösungsstrategien, also welche mathematische Denkweise ein Kind bei der Lösung mathematischer Aufgabenstellungen
anwendet. Dies bildet die Basis für eine qualitative Fehleranalyse, die Fehlerquellen eingrenzt und so das Erstellen des jeweils individuellen Fehlerprofils ermöglicht.
Zur Analyse der mathematischen Fehlleistungen kommen Verhaltensbeobachtungen hinzu, die spezielle Hinweise auf motorische, sensuelle und konzentrative Besonderheiten sowie auf die
psychosoziale Persönlichkeitsentwicklung des Kindes geben.
Schließlich ist die Erhebung einer ausführlichen Anamnese zu medizinischen und psychosozialen Besonderheiten des Kindes, seiner schulischen Leistungen, dem familiären Hintergrund
sowie der Kindheitsentwicklung und Erziehung für die Diagnose unabdingbar. Auf der Grundlage der ausgewerteten Diagnostik wird ein individuelles Therapieprogramm für die Einzeltherapie erstellt.
Integrative Lerntherapie
Die therapeutischen Interventionen variieren je nach den Defiziten, die etwa auf der Ebene der Wahrnehmungs- oder Gedächtnisleistungen, aber auch bei der persönlichen Verarbeitung der
eigenen Leistungsschwäche aufgedeckt werden. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt im mathematisch-fachlichen Bereich und stützt sich auf das Therapieprogramm DYAS (Dyskalkulie-Analytisches
System).
Dieser speziellen Methode zur Behandlung der Rechenschwäche liegt einerseits eine systematische Analyse der Struktur der Mathematik bezüglich ihrer Anforderungen an schlussfolgerndes
Denken zugrunde. Wobei die Analyse auch der kleinsten Schritte im Aufbau dieser Struktur als Quellen möglicher Missverständnisse beim Lernen im Vordergrund steht: Von Rechenschwäche Betroffene entwickeln nämlich ihre eigenen Rechenregeln. Diese subjektiven - d.h. nicht der Logik der Mathematik entsprechenden - Algorithmen sind der gewissermaßen hilflose Umgang der Kinder mit den
Anforderungen von Schule und Eltern: nur so kommen sie überhaupt zu irgendwelchen, zumeist sehr fehlerhaften Rechenergebnissen.
Andererseits resultiert die in unserem Institut angewendete Lernstrategie aus der systematischen Analyse des Prozesses der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung des Kindes sowie der
Struktur seiner Wahrnehmung und Motivation bezogen auf die Anforderungen im pränumerischen, im numerischen und im operativen Bereich mathematischen Lernens. Insoweit handelt es sich um eine
systematisierte Lernmethode des Erwerbs mathematischer Kompetenz. Diese speziell für Kinder und Jugendliche mit Lernstörungen konzipierte Mathematik-Didaktik vermeidet die Nachteile,
die die Anwendung herkömmlicher Vermittlungsstrategien für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen zeitigt.
Der Lernausgangslage des Kindes entsprechend, wird ein differenziertes und individuell abgestimmtes Therapieprogramm umgesetzt, das mittels permanenter förderdiagnostischer
Überprüfung dem Entwicklungsstand bzw. -fortschritt der Klienten laufend angepasst wird. Für den Erwerb mathematischer Kompetenz relevante perzeptive und kognitive Teilleistungen
müssen schrittweise aufgebaut werden; motorisch-rhythmische sowie motorisch-koordinative Sequenzübungen fördern dabei die Festigung des Seriationsverständnisses;
therapeutisch induzierte Spiele sind geeignet, die auditive und visuelle Wahrnehmungsfähigkeit zu verbessern; Lern- und Problemlösungsstrategien, Gedächtnisleistung und
Konzentrationsfähigkeit sind zu effektivieren. Die Selbstwahrnehmung und das Selbstvertrauen müssen durch das Erleben des schrittweisen Lernerfolgs und durch das Bewusst-Machen hemmender
Selbstkonzepte und -bewertungen korrigiert werden.
Daraus folgt, dass eine einseitige Ausrichtung der Therapie auf aktuelle Anforderungen der Schule und des dort gelehrten Stoffs vermieden wird, um angstinduzierte Fehlleistungen
abbauen und ein positives, von aktuellen schulischen Leistungsrückmeldungen unabhängiges, Selbstbild aufbauen zu können. Konkurrenz- und angstfreies Lernen sind wichtige Elemente
einer Therapie, die sich auf das gesamte kognitiv-emotionale Persönlichkeitskonzept des Kindes bezieht.
Die Dauer einer Therapie richtet sich nach der jeweiligen Ausprägung der Dyskalkulie und der individuellen psychosozialen Disposition des Kindes. Aus den statistischen Angaben
anderer Therapie-Zentren in Deutschland und unseren eigenen Ermittlungen ergibt sich ein Zeitrahmen für die Therapiedauer von eineinhalb bis vier Jahren. Über 90% der Klienten finden in
diesen Zeiträumen den Anschluss an den Schulstoff und die sekundären psychischen Störungen sind behoben oder zumindest gemildert.
Therapiebegleitenden Maßnahmen
Sie umfassen an erster Stelle Gespräche mit den Eltern; denn gerade deren Verständnis und Unterstützung sind für den Erfolg einer Therapie von entscheidender Bedeutung.
Daher wird der regelmäßigen Rücksprache mit den Eltern, die über den Stand der Therapie sowie auftretende häusliche und schulische Probleme Auskunft gibt, großes
Gewicht beigemessen. Im Einverständnis mit den Eltern wird Kontakt zu den Klassen- und/oder Fachlehrern aufgenommen, um Therapie, schulische Förderung und Hausaufgabenpraxis
aufeinander abzustimmen.
Zur schnelleren Automatisierung der Lerninhalte und -strategien sowie der Entlastung der Familie von ineffektivem Lernstress und dadurch bedingten emotionalen Spannungen kann im Einzelfall auch
ein individuelles therapiebegleitendes häusliches Trainingsprogramm sinnvoll sein. Ab welchem Zeitpunkt dieses Programm eingesetzt wird und welchen zeitlichen Rahmen es in Anspruch
nehmen sollte, ist immer eine Einzelfallentscheidung.
Therapiebegleitendes Controlling
Die bereits erwähnte laufende Förderdiagnostik liefert nicht nur die notwendigen Daten für die jeweils zu aktualisierende Fortschreibung des individuellen Therapieplans und der
möglichen Korrektur der heilpädagogischen Intervention, sie ermöglicht zugleich eine beständige Überprüfung und Beurteilung der Lernfortschritte der Klienten sowie
ihrer psychischen Symptomatik. Dieses prozessbegleitende Controlling ist nicht Selbstzweck, aus der Überprüfung der Wirksamkeit der Therapie und der daraus gezogenen
Konsequenzen ergibt sich die Sicherstellung der gewünschten Qualität der Therapie.
Die kontinuierliche Dokumentation des Therapieverlaufs ist selbstverständliche Voraussetzung und Bedingung für Controlling und Qualitätssicherung.
Diagnostische und therapeutische Leistungen
Die Diagnostik umfasst:
- Invarianzprüfung sensu Piaget/Kutzer sowie das institutseigene Qualitative Erfassungssystem Dyskalkulie (Quest_D), durchgeführt nach der Methodik des „lauten Denkens“ (vgl.
Lorenz/Radatz); u.U. RZD 2-6 und weitere Tests zur Erfassung visuell-räumlicher Zusammenhänge; persönliche Einlassung mit dem Klienten.
- den anamnestischen Elternfragebogen zur Kindheits- und Schulentwicklung sowie ein ausführliches Gespräch mit den Eltern.
- fehleranalytische Auswertung der Klassenarbeiten im Fach Mathematik.
- das ausführliche Beratungsgespräch mit den Eltern.
- die Erstellung eines schriftlichen Diagnoseberichts.
- die Erstellung eines individuellen Fehlerprofils.
Die Lerntherapie umfasst:
- eine einzeltherapeutische Sitzung pro Woche (45 Min.) In Einzelfällen und wenn dies therapeutisch vertretbar ist, werden auch zwei Sitzungen pro Woche vereinbart.
- die Entwicklung eines individuellen therapiebegleitenden häuslichen Trainingsprogramms.
- Hilfestellungen für die Eltern im Umgang mit dem häuslichen Trainingsprogramm.
- die Beratung der Eltern in ihrer Begleitung der Lerntherapie sowie bei häuslichen Lernkonflikten.
- regelmäßige Beratung von und Gespräche mit den Lehrerinnen und Lehrern des Kindes; Therapeut und Lehrertauschen sich
über den Therapieverlauf und den schulischen Lernprozess des Kindes aus.
- die regelmäßige therapiebegleitende Förderdiagnostik, die den aktuellen kognitiven und psychosozialen Entwicklungsstand des Klienten ermittelt und eine Grundlage für
die Fortschreibung des individuellen Therapieplans und des therapiebegleitenden Controlling ist.
- regelmäßige Teamsitzungen der Therapeuten - einschließlich des psychologischen Supervisors; auch sie dienen dem laufenden Controlling des Therapieprozesses und
der Sicherstellung seiner Qualität.
- gegebenenfalls Berichte über den Verlauf und das Ergebnis der Therapie.
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